Amoklauf in Winnenden per Twitter: Stern.de verplappert sich
Unter der Überschrift „Das Internet verplappert sich“ lieferte Gerd Blank auf stern.de gestern um 13.43 Uhr einen Schnellschuss, der in 5.300 Zeichen nicht sehr viel mehr Substanz enthielt als die von ihm kritisierten 140-Zeichen-Meldungen des Microblogging-Dienstes Twitter.
Wortreich vermittelt Blank den Eindruck, dass er Twitter immer noch nicht so recht verstanden hat (ein Phänomen unter Journalistenkollegen, das ich schon mal im Beitrag „Twitter und Facebook sind nichts für Soziologen und Journalisten“ beschrieb).
„Egal, wo etwas Dramatisches passiert: Der Jedermann-Journalismus bringt Nachrichten sofort ins Internet. Ohne Rücksicht auf Rechte und Verluste,“ heißt es da. Und später im Artikel: „Der Pressekodex gilt halt […] nicht für ein Medium, welches von vielen fälschlicherweise als die Zukunft des Journalismus betrachtet wird.“
Diese ominösen „Vielen“ sind mir bisher noch nicht so geballt begegnet wie offensichtlich Gerd Blank. Niemand, der Twitter wirklich kennt, würde auch ernsthaft solch einen Quatsch behaupten: Microblogging ist kein redaktionelles Medium, sondern lediglich ein technischer Verbreitungsweg. Über den kann man journalistische Inhalte verbreiten (selbst in maximal 140 Zeichen), aber natürlich auch jede Menge Geplapper und Geschwurbel.
Dafür kann jedoch Twitter nichts – jeder Autor von so genannten Tweets und jeder ihrer Abonnenten muss selbst entscheiden, wie er Twitter nutzt. Wer das von Gerd Blank angeprangerte „Geschwätz“ des „Pöbels“ (seine Wortwahl) nicht hören will, braucht es nicht zu abonnieren.
Wie ich schon häufiger schrieb: Ich verdamme das gute alte Dampfradio auch nicht dafür, dass es Schlager sendet, sondern ich höre solche Sender einfach nicht.
Was steht in der rechten stern.de-Spalte direkt neben Blanks Artikel? Ein Twitter-Ticker. Sehr passend!
Selbstverständlich sehen bei stern.de nicht alle „das große Plappern“ so kritisch wie Gerd Blank. Sonst würde das Portal nicht selbst auf neun Kanälen twittern. Dumm nur, dass viele dieser Tweets kaum jemand liest. Das zeigt ein Blick auf die Zahl der „Follower“.
Als nächstes wird sich Gerd Blank wohl darüber beschweren, dass der „Pöbel“ nicht nur nicht schreiben, sondern auch nicht lesen kann.
Peinlich (siehe auch die Kommentare von Tom und Dennis): Noch jetzt (13.3.2009, 1 Uhr) steht auf stern.de die Meldung “Tim K. kündigte Tat im Internet an”, die offenbar nicht stimmt. Der auch von stern.de abgebildete Screenshot eines Chatrooms soll eine Fälschung sein.
Gerd Blanks Seitenhieb gegen den Internet-„Pöbel“ kann man nun auch als Kritik an den Journalismus-Profis ansehen, die er uns eigentlich als Gralshüter der Seriosität verkaufen will: “So funktioniert das Web. Aus einer Meldung wird eine Lawine, die den Wahrheitsgehalt oft unter sich begräbt. Das Jeder-kann-mitmachen-Internet zeigt seine Fratze.”
Wie Tom schreibt: Ein klassisches Eigentor.
Update: Hier ist schöner Blog-Beitrag von Stefan Niggemeier, Titel: „Pöbeljournalismus“.
Written by Peter Jebsen
12. März 2009 um 23:17
Veröffentlicht in Debatten, Internet, Medien, Social Networking, Twitter
Tagged with amoklauf, gerd blank, kommentar, kritik, microblogging, stern, stern.de, twitter, winnenden
11 Antworten
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Ich werd‘ mit Twitter ja auch nicht warm – „Zeittee“ macht das iPhone draus, ts – aber wo Du recht hast, hast Du recht 😎
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Giesbert Damaschke
12. März 2009 at 23:32
Da sich die Amoklauf-Drohung im Chat nun offenbar als Hoax herausstellt, den u.a auch der Stern verbreitet hat, wird Gerd Blanks Artikel zum klassischen Eigentor.
Hier nachzulesen 😉
Gruß
tom
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tom
12. März 2009 at 23:56
Diffus, diffuser, Killerspiel…
Gerüchte, Voyeurismus, Falschmeldungen und voreilige Schlüsse
Die Toten des Amoklaufs von Winnenden sind weder beerdigt noch annähernd genug betrauert, die Tat noch nicht in ihren Einzelheiten untersucht und der Schock dieser Katastrophe kaum 24 Stu…
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Dennis' Internet World
13. März 2009 at 0:02
@ alle # „falscher Chat“: Zu allererst liegt der Fehler beim Innenministerium Baden-Württtemberg – und erst dann bei den Journalisten. Greift die Politik an. Medien sind bekanntlich auf Quellen angewiesen – und da sollte man einem Minister eigentlich trauen können. Oder denkt Ihr, stern.de und andere haben selbst SEK-mäßig ermittelt, dass Tim K. gechattet hat??? Seid doch nicht so naiv!
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Meester
13. März 2009 at 9:19
Naiv ist derjenige, der den Mainstream-Medien alles unhinterfragt abkauft!
Nur widerzugeben was Politik & Polizei offiziell verlautbaren lassen, ist Hofberichtserstattung. Das gabs schon im Mittelalter,…
Unsere Journalisten hätten nicht mal „SEK-mäßig“ ermitteln müssen, es hätte gereicht die Suchmaschine zu befragen, …schon einige Stunden lang gab es im Netz ziemlich eindeutige Anhaltspunkte, dass die „Amok-Drohung“ gefaked war, während sie in den Hauptnachrichten immer noch den Hoax verbreiteten.
Jetzt rudern alle Medien zurück 😉
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tom
13. März 2009 at 10:06
@tom: WOW! „Ziemlich eindeutige Anhaltspunkte im Netz….“ Seriöse Quelle, auf die Du da eingehst. ZIEMLICH eindeutig, und dann auch noch im NETZ. Na, dass wir da nicht alle drauf angesprungen sind…
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Meester
13. März 2009 at 10:11
Als Quelle offenbar seriöser als die Polizei in BW. 🙂
Denn mitlerweile beziehen sich die meisten Medien darauf. Ich habe unter obigen Link bereits in meinem Blog alles dazu geschrieben, möchte es hier nicht nochmal widerkauen. Kannst es lesen, es lassen oder weiterschlafen 😉
Gruß
tom
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tom
13. März 2009 at 10:39
Schlaf ich lieber…
.
Gruß
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Meester
13. März 2009 at 10:48
@Meester: Mir ging es nicht primär um die Chat-Meldung, sondern eher um die Heuchelei, die ich darin sehe, wenn man den „Pöbel“ angreift und dabei selbst „Pöbel“-Methoden einsetzt.
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pjebsen
13. März 2009 at 12:15
[…] hat das ebenfalls aufgegriffen und noch mit ein paar interessanten Umfragen versehen. Auch dazu schnattert das sozialgeschnatter über einen Stern-Artikel, der sehr gut zum Thema passt. Stern lese ich prinzipiell nicht, daher […]
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Twitter: Ganz nah am Amoklauf | Verdattert - Aus dem Gleichgewicht und wieder zurück!
14. März 2009 at 12:10
zu dem beschriebenen „Pöbel“, der seine Nachrichten auf seinem Blog verbreitet oder per Twitter an die Öffentlichkeit schießt …
– das kann man auch ganz anders sehen: gute info bzw. gut geschriebene und recherchierte artikel werden immer ein publikum finden. ob von guten journalisten oder bloggern oder bloggenden journalisten, wie auch immer. die grenzen verschwimmen mehr und mehr — und warum sollen journalisten keine hochwertigen blogs machen? koenne wir zB arbeiten daran (hehe), siehe http://www.techfieber.de
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Jochen Siegle
18. März 2009 at 17:45